Interviews

Autoreninterview – Susanne Gavénis– Titel: Die schwarze Quelle

Hallo Ihr Lieben, nun ist die Frankfurter Buchmesse schon ein paar Tage her  - es war wie immer einfach magisch - und es wird Zeit, mal wieder ein paar Fragen an eine Autorin zu stellen. Dieses Mal stand mir die liebe Susanne Gavénis Rede und Antwort. Ich wünsche Euch viel Spaß damit.

 

Steckbrief

Name bzw. Pseudonym: ganz schlicht Susanne Gavénis. Ich hatte vor vielen Jahren eine Zeit lang mit der Idee gespielt, wie es wohl wäre, meine Romane unter einem coolen Pseudonym zu veröffentlichen (Susan McMahon war damals mein Favorit wegen des Doc Doom-Darstellers Julian McMahon aus den Fantastic Four-Filmen, den ich sehr charismatisch fand), aber schließlich kam ich zu dem Schluss, dass mein eigener Name so schlecht auch wieder nicht klingt und es einfach schöner wäre, wenn nicht irgendein Fantasieprodukt die Cover meiner Bücher zieren würde.

Geburtstag/Ort: Celle

Wohnort/ Region: Hessen

Homepage: www.susanne-gavenis.de

Familienstand: verheiratet (mittlerweile auch schon seit unglaublichen 22 Jahren!)

Kinder: keine (was bedeutet, dass ich meine Playstation mit niemandem teilen muss!)

Genre: Fantasy und Science Fiction

Gefällt mir: Sonnenauf- und -untergänge; mein Nachmittagstee; Drachenposter und -lampen; Unterrichtsstunden, bei denen die Schüler neugierig sind und Fragen stellen, statt entspannt vor sich hin zu dösen; SF- und Fantasy-Brettspiele; Rollenspiele auf meiner Playstation; über eine neue Romanidee zu diskutieren; empathische Menschen.

Gefällt mir nicht: Egoismus und Egozentrik; wenn ich kein Lakritz mehr habe; einen Roman zu Ende geschrieben zu haben und zu wissen, dass die nächsten Ferien, in denen ich einen neuen anfangen kann, noch fern sind; Geschichten, bei denen am Ende die Hauptfigur stirbt, nur weil das angeblich anspruchsvoller sein soll als ein Happy End; zu wenig bzw. zu prall gefüllte Kopfkissen.

 

Liebe Susanne, mit ‚Die schwarze Quelle‘‘ erschien 2017 Dein neuestes Fantasy-Meisterwerk. Erzähl uns doch bitte kurz, was Dich generell zum Schreiben und insbesondere zu diesem Roman bewogen und inspiriert hat? Wie ist die Idee dazu entstanden? Wie sahen die Recherchen dazu aus?

Na ja, „Meisterwerk“ klingt jetzt ein wenig zu pompös in meinen Ohren. Was ich selbst über die „Schwarze Quelle“ sagen kann, ist, dass ich sowohl mit der Entwicklung meiner beiden Protagonisten Vian und Lerith als auch mit der konflikthaften Konzeption der Geschichte insgesamt sehr zufrieden bin.

Die ursprüngliche Idee war dabei auch zugleich der zentrale Konflikt meines Hauptprotagonisten Vian, nämlich die Frage, wie ein moralisch integrer Mensch reagiert, wenn der Druck auf ihn, sich unmoralisch zu verhalten bzw. alles hinzuwerfen, immer mehr zunimmt. Was geschieht aufgrund dieses Drucks in seinem Inneren, wie viel ist er bereit, für seine Überzeugungen und das, woran er glaubt, zu investieren, ohne dabei emotional zu zerbrechen?

In dieser Idee spiegelt sich im Grunde bereits wider, was das Schreiben von Geschichten generell für mich bedeutet und was mich zum Schreiben motiviert. Das Wichtigste an Geschichten – egal ob im Roman oder im Film oder einer Fernsehserie – ist für mich die Entwicklung der Hauptfiguren. Den psychologischen und emotionalen Veränderungen einer Figur aufgrund der Ereignisse, die ihr widerfahren, nachzuspüren, mir zu überlegen, wie sie mit heftigen und zuweilen traumatischen Erfahrungen umgeht und – ganz zentral – wie sich in ihren Reaktionen darauf ihre innere Stärke und Integrität ausdrücken, macht mir am Schreiben am meisten Spaß.

Dieser Wunsch, Geschichten zu erzählen, hat bereits in meiner Kindheit angefangen (was natürlich DIE klassische Antwort nahezu jeden Autors ist). Genauer gesagt stand ganz am Anfang meine Unzufriedenheit damit, dass im Fernsehen und in Büchern die Geschichten oft nicht so geendet haben, wie ich mir das gewünscht hätte, und ich irgendwann beschlossen habe, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und mir alternative (und für mich befriedigendere) Enden auszudenken.

Befriedigend heißt in meinem Fall, dass es mir ein Graus ist, Figuren, die ich ins Herz geschlossen habe, am Ende einer Geschichte scheitern zu sehen. In diesem Bedürfnis nach positiven Enden drückt sich sicherlich meine persönliche Welt- und Menschensicht aus, und es ist wohl das, was bei einem Autor seine „Stimme“ genannt wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es sich lohnt, für sein eigenes Glück zu kämpfen und sich zu bemühen, psychologisch und emotional zu wachsen und innerlich zu reifen, und diese Überzeugung möchte ich auch in meinen Geschichten vermitteln.

Es hat durchaus schon Romane von mir gegeben, wo ich meine Hauptfiguren am Ende hätte sterben lassen können. In diesen Fällen wäre ihr Tod stimmig und mit dem Rest der Geschichte konsistent gewesen, aber dennoch habe ich es nicht über mich gebracht, sie sozusagen als Belohnung für ihre ganzen Kämpfe ins Jenseits zu befördern. Das mag idealistisch und realitätsfern tönen, ich denke jedoch ganz entschieden, dass im Leben eine grundlegende Sinnhaftigkeit existiert, die sich auch oft genug zeigt, wenn man mal genauer hinschaut. Zu glauben, dass das Streben nach Glück und Selbsterfüllung ohnehin zum Scheitern verurteilt ist und einem das Leben im entscheidenden Moment bestimmt einen dicken Stein in den Weg wirft, über den man stürzt (um danach nicht wieder aufzustehen), greift - bei aller Tragik, die dem Leben auch innewohnt – in meinen Augen als allgemeines Weltbild zu kurz. Wenn sich die Leser meiner Romane am Ende der Geschichte besser fühlen als am Anfang, habe ich als Autorin mein Ziel erreicht.

 

Das hört sich ja schon sehr vielversprechend und anregend an. Aber wie genau sah denn Dein Leben vor dem Schreiben aus?

Na ja, wie gesagt habe ich schon als Kind angefangen, mir Geschichten auszudenken. Richtig, also ernsthaft mit dem Schreiben begonnen, habe ich dann mit 11. Aber ich nehme an, deine Frage bezieht sich mehr auf mein Leben, bevor ich angefangen habe, meine Romane zu veröffentlichen. Autorin bin ich ja nur nebenberuflich, hauptberuflich unterrichte ich als Lehrerin für Bio und Chemie an einem Gymnasium.

Nach dem Referendariat – das ich aus verschiedenen Gründen als psychische und emotionale Ausnahmesituation empfunden habe – habe ich mir erst einmal eine zehnjährige Auszeit von der Schule genommen, in der ich als selbstständige Nachhilfelehrerin gearbeitet habe. Diese Entscheidung war für mein Schreiben ein perfektes Arrangement. Vom Nachmittag bis zum Abend habe ich Nachhilfe gegeben, und vormittags habe ich an meinen Romanen gearbeitet. Dabei war mir immer – schon als Jugendliche – sehr bewusst, dass das Schreiben von Geschichten eine Tätigkeit ist, die SEHR viel Übung und Erfahrung braucht, sodass für mich viele Jahre die Überlegung, meine Romane an Verlage zu schicken, nicht wirklich weit oben auf meiner Prioritätenliste stand.

Das wäre im Übrigen ein Rat, den man gerade jugendlichen Autoren m. E. nicht oft genug geben kann – sich die Zeit nehmen, handwerklich und auch als Mensch erst einmal zu reifen, bevor man anfängt, von einer Verlagsveröffentlichung und zukünftigem Weltruhm zu träumen. Bei mir gab es Anfang meiner Unizeit eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, dass mich mein Schreiben vom echten Leben entfernen würde. Aus diesem Grund habe ich mehrere Jahre damit aufgehört, mir Geschichten auszudenken – nur um dann schließlich mit neuem Tatendrang und auf einer psychologisch und emotional neuen und stabileren persönlichen Grundlage damit weiterzumachen.

 

Wow, nicht schlecht, da hast Du ja schon einiges erlebt. Was wünschst Du Dir denn noch für Deine Zukunft? Was sind Deine Träume und gibt es vielleicht welche, an deren Erfüllung Du schon ganz nah dran bist?

Was ich mir – wie vermutlich die meisten Autoren – für die Zukunft wünsche, wäre sicherlich, mit meinen Geschichten noch mehr Leser zu erreichen. Selbstkritisch muss ich allerdings sagen, dass ich neben meinem Vollzeit-Lehrerjob (der oft ziemlich schlaucht) in der Regel nicht die Energie und Zeit aufbringe, werbetechnisch so aktiv zu werden, wie es nötig wäre, um meine Romane weiter zu verbreiten. Wenn der Kreis derjenigen, die meine Geschichten kennen und Freude damit haben, im Lauf der nächsten Jahre Stück für Stück weiter anwachsen würde, wäre das für mich ein Erfolg, auch wenn niemals eine meiner Geschichten verfilmt werden sollte und ich keine Millionen damit verdiene.

Unabhängig davon wäre es schön, auch in Zukunft so gesund zu bleiben, dass ich das, was mir wichtig ist, bis ins (hoffentlich) hohe Alter tun kann. Dieser Wunsch schließt natürlich alle Menschen mit ein, die mir persönlich am Herzen liegen. Nach meiner Pensionierung könnte ich mir vorstellen, irgendwo an der Küste ein kleines Häuschen zu haben, in aller Ruhe meinen Tee zu schlürfen und mich ansonsten ganz meinem Schreiben zu widmen.

Ein Traum, der sich, wenn man das so sagen möchte, jetzt bereits für mich erfüllt hat, ist die Kombination aus Lehrerin und Autorin. Da ich – bei aller Selbstbesinnung allein vor meinem Computer, wenn ich an einem Roman arbeite - ein sehr kommunikativer Mensch bin, empfinde ich es als äußerst sinnhaft und befriedigend, diese kommunikative Ader in zwei so unterschiedlichen Lebensbereichen wie der Schule und dem Schreiben auszudrücken (denn durch meine Geschichten kommuniziere ich ja letztlich auch mit meinen Lesern, wenn auch auf eine andere Art als mit meinen Schülern im Klassenraum). Das ist ein Lebenskonzept, das mir sehr entspricht und daher durchaus ein Traum, dessen Erfüllung schon gelungen ist.

 

Das waren wirklich schöne Träume und ich drücke Dir die Daumen. Du sagtest ja vorhin, warum Schreiben für Dich so bedeutsam ist. Sicher liest Du auch genauso gerne. Daher würde es meine Leser brennend interessieren, wenn Du uns Dein Lieblingsbuch verraten würdest?

Da ich an ähnlichen Stellen immer dieselben Bücher genannt habe, die mich aus den verschiedensten Gründen beeindruckt haben, möchte ich meine üblichen Verdächtigen nun ein wenig variieren.

Was ich allerdings stets als eine Geschichte empfehlen möchte, die mir sehr gut gefallen hat, ist die „Ich bin kein Serienkiller“-Reihe von Dan Wells. Wie es der Autor hier geschafft hat, einen Spagat zwischen einer extremen Charakterzeichnung und einem Mitfühlen und einer Identifikation mit der Hauptfigur hinzubekommen, finde ich wirklich bemerkenswert (immerhin kämpft der Protagonist während der gesamten Romane gegen seine soziopathischen Neigungen an, und diese Neigungen haben es durchaus in sich). Ich würde allerdings energisch dazu raten, nur die ersten drei Bände der Reihe zu lesen, da das Ende des dritten Bandes in meinen Augen für die Hauptfigur perfekt ist. Ein Autor sollte wissen, wann eine Geschichte zu Ende erzählt ist.

Was mir in den letzten Monaten Spaß gemacht hat, waren die Mercy Thompson-Romane von Patricia Briggs über eine gestaltwandelnde Automechanikerin, die ab und zu als Kojote durch die Gegend läuft, sich nicht zwischen zwei Werwölfen als Beziehungspartner entscheiden kann und als besten Kumpel einen Vampir hat. Das klingt nach absurder Romantasy, ist aber sehr gut erzählt und alles andere als weichgespülte Teenie-Fantasy-Soap (der Bodycount in den einzelnen Romanen ist zuweilen gar nicht ohne). Vor allem die Darstellung der verschiedenen Gruppierungen (Werwölfe, Vampire, Feen) in ihren sozialen Strukturen finde ich sehr interessant.

Ein letztes Buch, das mir am Herzen liegt, ist „Wintermärchen“ von Mark Helprin, eine sehr schön geschriebene und poetische Geschichte (die vor ein paar Jahren sogar eine Hollywood-Verfilmung bekommen hat, die mit dem Roman bis auf einige wenige Basiselemente aber rein GAR NICHTS zu tun hat und die ich – verglichen mit dem Buch – einfach nur furchtbar finde).

 

Und was wäre Dein Lieblingszitat. Etwas, das Dein Leben ausmacht bzw. es vervollständigt hat?

Mhm, mal sehen. Ein schlichter, aber für mich sehr wahrer Sinnspruch stammt von einem japanischen Mönch: „Zu dem, der warten kann, kommt alles mit der Zeit.“ Dieser Spruch gemahnt mich immer daran, dass Geduld und Frustrationstoleranz wichtige Tugenden sind, die man nicht gering schätzen sollte. Allerdings – und das ist bei diesem Spruch für mich sehr wichtig – ist diese Art von Geduld etwas völlig anderes, als lediglich phlegmatisch darauf zu warten, dass einem das gebratene Hühnchen in den geöffneten Mund fliegt, sondern beinhaltet aktives Handeln und konsequentes Eintreten für die eigenen Wünsche und Ziele (gepaart mit dem Wissen, dass viele Dinge ihr eigenes Tempo haben und es nichts nützt, sie mit Gewalt herbeizwingen zu wollen).

Ein anderer Spruch, der für mich sinnhaft ist (auch wenn er gerade in einem Werbespot im Fernsehen verwurstet wird, aber das tut ja seiner Wahrheit keinen Abbruch): „Nur eine Null hat keine Ecken und Kanten.“ Das erinnert mich stets daran, dass Individualität etwas ist, das den Menschen erst zum Menschen macht, und man sich nicht allzu schnell und leichtfertig der Meinung oder dem Verhalten anderer anpassen sollte, nur um vielleicht dadurch beliebter zu sein.

Eine andere Weisheit, die ich für mein persönliches Leben als hilfreich empfinde, stammt aus der Burnout-Therapie: „Du kannst nicht verhindern, dass die Krähen um deinen Kopf kreisen, aber du kannst dafür sorgen, dass sie keine Nester in deinen Haaren bauen.“ Was bedeuten soll, dass man es zwar oft nicht in der Hand hat, was einem alles an stressigen Situationen im Leben begegnet, aber dass man durchaus einen Einfluss darauf hat, in welcher Form man gedanklich und emotional auf diese Stressfaktoren und Belastungen reagiert.

Ein weiteres Zitat, das hin und wieder ein persönliches Mantra von mir ist, kommt ebenfalls aus der Psychotherapie: „Ich bin nicht allein. Ich habe doch mich.“ Auch wenn ich wie gesagt ein kommunikativer Mensch bin, finde ich es doch sehr wichtig, sich nicht von dieser Kommunikation abhängig zu fühlen und sich immer wieder in seinem eigenen inneren Zentrum zu verorten. Und ich denke, ein Mensch, der nicht mit sich selbst allein sein kann, kann auch nicht wirklich gemeinsam mit anderen zufrieden sein.

Eine letzte Weisheit, die für mich in vielen Lebenssituationen von Bedeutung ist, lautet: „Du kannst nicht kontrollieren, wie sich die anderen verhalten. Aber du kannst entscheiden, wie du auf dieses Verhalten reagieren willst.“ Diese Unterscheidung ist in meinen Augen ganz wesentlich, um in bestimmten Momenten seine eigene Handlungsmacht nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich kann andere Menschen nicht verändern, egal, wie sehr ich mir das zuweilen auch wünschen mag. Was ich allerdings sehr wohl in der Hand habe, ist, zu entscheiden, wie ich das Handeln der anderen bewerte, was für mich akzeptabel ist und was nicht und in welcher Form ich meine eigenen Grenzen und Gefühle zum Ausdruck bringe. Und das ist eine Menge.

Schreiben gehört zu Deinem Leben wie die Luft zum Atmen. Wie oder, besser gesagt, wo schreibst Du denn? Vielleicht magst Du uns einen kurzen Einblick in Deinen Arbeitsplatz geben? Schreibst Du womöglich sogar lieber draußen, in einem Café, im Wald, …?

Tja, meine Schreibroutinen sind leider alles andere als spektakulär. In der Regel schnappe ich mir meinen Laptop und mein kleines aufklappbares Computertischchen, lege mich aufs Sofa, den Laptop auf den Knien, und fange an zu tippen. Früher habe ich auch mal im Strandkorb oder auf Parkbänken geschrieben (da allerdings mit Papier und Stift), aber zu viele Außenreize lenken mich in der Regel mehr ab, als dass sie mich in meinen Schreib-Flow bringen. In einem Café oder einer Kneipe zu schreiben, wäre deshalb nichts für mich.

 

Abseits von Deiner Liebe zu Büchern und dem geschriebenen Wort, was macht Susanne Gavenis und den Herzensmenschen hinter diesem Namen noch so alles aus?

Wow, du zwingst einen ja mit deinen Fragen richtig zur Selbstreflektion! Wenn ich mich mit wenigen Worten charakterisieren müsste, würde ich sagen, dass ich schon recht emotional bin. Wenn ich z. B. „Galileo Big Pictures“ schaue – was ich sehr gern tue - , kommen mir bei den vielen traurigen (aber auch positiven) Schicksalsgeschichten schnell mal die Tränchen, von irgendwelchen Liebesfilmen ganz zu schweigen. Daneben liebe ich aber auch die Wissenschaft und das analytische Denken. Die Fähigkeit, neugierig in die Welt hinauszuschauen und dabei Fragen zu stellen, empfinde ich für mein eigenes Leben als etwas sehr Bedeutsames, und ich bin überzeugt, dass ich zutiefst unglücklich wäre, wenn ich das aus irgendeinem Grund nicht mehr tun könnte. Eine weitere Eigenschaft, die mich als Mensch ausmacht, ist, denke ich, mein Mitgefühl und die Achtsamkeit, die ich versuche, im Umgang mit anderen Menschen zu leben. Ich versuche, jede Kommunikation so symmetrisch wie möglich zu gestalten und jedem Menschen erst einmal mit einer grundlegenden Akzeptanz und Respekt zu begegnen. Das ist mal leicht, mal schwierig, und manchmal werde ich gezwungen, energisch Grenzen zu ziehen, dennoch ist die Offenheit für den Selbstausdruck anderer Menschen für mich ein zentraler Wert, den ich als Lebensprinzip auch dann nicht in Frage stellen möchte, wenn dieser Respekt nicht erwidert wird.

 

Verrate uns doch ein kleines Geheimnis von Dir. Etwas, das niemand sonst bisher weiß, vielleicht ein Tick oder etwas Peinliches aus Deiner Jugend?

Eine Macke, von der bisher nicht viele wissen, ist meine Vorliebe für große plüschige Deko-Raubkatzen. Auf der Rückenlehne meines Sofas machen es sich z. B. ein weißer Albino-Tiger, ein gelb-schwarz-gestreiftes kräftiges Tigermännchen und ein Leopard gemütlich, die mir beim Schreiben und Playstation-Zocken über die Schulter schauen.

Daneben hübsche ich gerne meine Wohnung mit eher schrägen Dingen auf, um mich jeweils in die Stimmung zu bringen, die ich gerade brauche. Zum Beispiel habe ich neulich eine Wand meines Schlafzimmers mit bunten, selbstklebenden Papierschmetterlingen tapeziert, auf die ich jetzt jeden Morgen beim Aufwachen schaue und die in mir das Gefühl von Sommer, Sonne und Wärme wecken (was ich nicht schlecht finde, jetzt, wo bald der Herbst und Winter vor der Tür stehen).

Außerdem bin ich zwar Bio-Lehrerin, habe aber einen so krassen Anti-Grünen Daumen, dass jede Pflanze in meiner Wohnung innerhalb kürzester Zeit das Zeitliche segnet. Als nachbarschaftliche Urlaubsvertretung fürs Blumengießen eigne ich mich daher nur äußerst bedingt.

 

Wenn Du die Möglichkeit bekommen würdest, den Mars mit zu besiedeln, würdest Du dieses Abenteuer antreten? Wenn ja, warum und mit wem?

Das mag sich jetzt für eine Science Fiction-Autorin ein wenig seltsam anhören, aber am gemütlichsten finde ich es immer noch zu Hause auf dem Sofa. Auf den Mars würde ich nur dann fliegen, wenn die Raumfahrt-Technologie auf Star Trek-Niveau angekommen wäre. Vorher wäre es mir schlicht zu gefährlich und auch zu unbequem. Da bleibe ich lieber auf der guten alten Erde und schaue mir Weltraumreportagen im Fernsehen an. Abenteuerlustig bin ich viel mehr in meiner Fantasie als im wirklichen Leben, und nur, um einmal durch roten Marsstaub zu schlurfen, an einer so riskanten Unternehmung wie einer Marsexpedition teilzunehmen, wäre meine Sache nicht. Wenn ich aber tatsächlich fliegen sollte, würde ich auf jeden Fall meinen Mann mitnehmen. Ich fürchte nur, der hätte noch weniger Bock auf solche Faxen als ich.

 

Wenn Du Dein Leben als Tier verbringen müsstet, welches würdest Du wählen und weshalb?

Da ein Drache vermutlich nicht als richtiges Tier durchgehen würde, denke ich, wäre ich gern ein Delfin. Gemeinsam mit anderen Delfinen pfeilschnell durch die Wellen zu gleiten, würde bestimmt riesigen Spaß machen. Außerdem halte ich Delfine für sehr kluge und empathische Tiere. In Tierreportagen zu sehen, wie ganze Schulen in vollkommenem Vertrauen zum Strand geschwommen kommen, um sich dort von kranken oder behinderten Kindern berühren zu lassen (und das auf der Grundlage einer völlig freien Entscheidung), finde ich sehr berührend.

 

Okay, hast Du Dich schon mal als dieses an Fasching verkleidet? Wenn nein, was ist Dein bisher bestes Kostüm gewesen? Bzw. feiert man das bei Dir überhaupt?

O Gott, Fasching ist mir ein Graus! Ich gebe zu, mit dieser Fröhlichkeit auf Knopfdruck kann ich rein gar nichts anfangen. Ich bin immer froh, wenn diese Tage vorbei sind und ich wieder für ein Jahr Ruhe habe. Mit Verkleiden ist es deshalb bei mir auch nicht weit her. Man könnte vielleicht sagen, dass ich in der Faschingszeit als grimmigere Version von mir selbst verkleidet bin, bis die angeheiterten Feiersüchtigen wieder ausgenüchtert und in ihrem Verhalten wieder berechenbarer geworden sind. Ich bin eher ein Mensch für die besinnliche Weihnachtszeit, wenn es draußen kalt oder regnerisch ist, man sich mit einem Tässchen heißen Tee und einer Kerze auf dem Tisch gemütlich auf dem Sofa ausstrecken und entspannende Musik hören kann. Das gefällt mir besser, als in irgendwelchen Festzelten bei Humba-Humba-Täterä-Musik Party zu machen.

 

Wenn Dein Leben ein Film wäre, welchen Titel würde er tragen?

Vielleicht „Der alte Mann und das Meer“. Der alte Mann ringt mit dem Fisch, gibt nicht auf und hat das Tierchen am Ende gegen alle Widerstände eingesackt. Sich auf diese Weise durchzubeißen, wäre schon charakteristisch für mein Leben, finde ich. Oder vielleicht auch „Der weiße Hai“. Der Held hasst das Wasser, und trotzdem schafft er es, dem fiesen Hai in dessen ureigenem Element zu trotzen, weil er die Zähne zusammenbeißt und sich nicht unterkriegen lässt.

Witzig, dass beide Filme, die mir spontan einfallen, auf dem Meer spielen. Da bin ich ja froh, dass mir als erster Film, mit dem ich mein Leben beschreiben würde, nicht „Titanic“ oder „Open Water“ in den Sinn gekommen ist, das würde mich schon ein wenig nachdenklich machen.

 

Wenn Du jetzt Deine Handtasche öffnest, was findet sich alles darin? Und wie würdest Du was davon nutzen, um aus einer brenzligen Lage zu kommen / bzw. die Welt zu retten, wenn diese just in diesem Moment von Außerirdischen angegriffen würde? Oder, besser noch, von Lord Voldemort?

Ähm, welche Handtasche denn? Ich habe doch einen Rucksack, wozu brauche ich eine Handtasche? Offenbar erfülle ich in dem einen oder anderen Punkt nicht wirklich die geschlechtstypischen Rollenklischees.

Ich könnte vielleicht die Aliens in die Flucht schlagen, indem ich ihnen meine Speichersticks an die Rübe werfe, die ich immer in meinem Rucksack dabei habe und auf denen meine gesammelten Arbeitsblätter und Skripte für die Schule gespeichert sind. Ich könnte auch versuchen, aus meinem Rucksack ein Blatt Papier herauszukramen und die Aliens mit dem Falten von Origami-Figürchen derart in Verwirrung zu stürzen, bis sie vergessen haben, wozu sie überhaupt gekommen sind. Oder ich schiebe ihnen einfach mein Smartphone rüber, und ruck, zuck sind sie nur noch am Knöpfchen drücken und können problemlos aus dem Verkehr gezogen werden.

Lord Voldemort wäre dagegen eine härtere Nuss. Ich könnte ihm ja die neue Adresse vom guten alten Harry stecken, dann zischt er ab und lässt mich in Ruhe. Das mag zwar nicht besonders moralisch sein, aber Harry kriegt das schon hin!

 

Die Welt weiß, ich bin ein großer Marvel-Fan und dürfte ich eine Superkraft haben, so würde ich wahrscheinlich die Unsichtbarkeit wählen, was wäre Deine erste Wahl?

Da ich sehr auf Elemente-Magie stehe (und sie deshalb in meinen Romanen bereits mehr als einmal verwendet habe), fände ich es sehr cool, so wie Johnny Storm mal eben „Flamme an!“ zu rufen und eine Sekunde später als lebende Fackel durch die Lüfte zu sausen. Überhaupt wäre Fliegen schon eine feine Sache (oder, wenn das auch als Superkraft durchgehen würde, Teleportation. Dann könnte ich innerhalb eines Augenblicks an den Strand von Mallorca teleportieren, mich ein paar Stunden in der Sonne aalen und abends wieder zurück in meine kleine Butze hier in Deutschland hüpfen, und das, ohne einen einzigen Cent dafür auszugeben). Aber auch so wie Flash durch die Gegend zu düsen, hätte was. Da ich immer das Gefühl habe, zu wenig Zeit für das zu haben, was mir wirklich wichtig ist, wären mir alle Superkräfte, die mir dabei helfen könnten, mehr Zeit für das Wesentliche freizuschaufeln, sehr willkommen (z.B. in einer Sekunde den Einkauf im Supermarkt oder den leidigen Hausputz erledigt zu haben und stattdessen eine Szene in meinem neuen Roman zu schreiben, seufz!).

 

Hörst Du eigentlich auch gerne Musik? Sicher hörst Du Musik. Wer tut das nicht J Gibt es ein Lied, das in Deinem bisherigen Leben und Wirken eine besondere Rolle gespielt hat. Quasi der Soundtrack Deines Ichs? Und was wäre der perfekte Song für Deinen aktuellen Roman?

Oh, das ist aber wirklich eine schwierige Frage! Mein Musikgeschmack ist recht breit gefächert, je nach der Stimmung, in der ich gerade bin. Neulich waren etwas härtere Sachen wie Nightwish, Kamelot oder Evanescence im Auto genau das Richtige, und eine Woche später hat mich genau diese Musik total genervt, und ich brauchte etwas Ruhigeres wie Secret Garden und Loreena Mc Kennitt. Beim Schreiben meiner Romane benötige ich dagegen absolute Stille, da würde mich Musik, egal ob sanft oder energiegeladen, nur ablenken. In diesem Punkt bin ich anders als viele Autoren, die mit der richtigen Musik bei bestimmten Szenen erst so richtig in ihren Schreibfluss hineinfinden. Was ich generell mag, ist der Soundtrack meiner Final-Fantasy-Videospiele, besonders der Teile sieben und acht. Die einzelnen Musikstücke rufen sofort die Stimmung aus den verschiedenen Spielsituationen wieder bei mir wach, und ich bin emotional sofort wieder im Spiel und bei den Figuren.

 

Stell Dir bitte vor, Du dürftest einen Abend mit einer verstorbenen Person verbringen – egal, ob berühmt oder nicht –, welche wäre es, warum und was wäre Deine erste Frage an diese?

Das ist einfach zu beantworten. Wenn ich einen Abend mit einer verstorbenen Person verbringen könnte, wäre das mein Opa väterlicherseits. Er ist der Einzige in meiner Familie, der neben mir Geschichten geschrieben hat, und zwar ebenfalls Science Fiction. Leider habe ich meinen Opa nie kennengelernt und auch nie eine Geschichte von ihm lesen können, da er als junger Mann im Zweiten Weltkrieg in einem U-Boot ums Leben gekommen ist und seine Geschichten sozusagen mit ihm gestorben sind. Obwohl ich nicht weiß, was er für ein Mensch war, habe ich mich trotzdem auf eine merkwürdige Weise seelenverwandt mit ihm gefühlt und es immer sehr bedauert, dass er niemals eine Chance hatte, zu leben, seine Geschichten zu erzählen und damit alt zu werden. Außerdem – auch das ist ein schönes Detail – war er neben mir der einzige Linkshänder in der Familie. Meine Frage an ihn wäre: Warum hast du Science Fiction geschrieben? Was war deine „Stimme“ als Autor? Und was für Geschichten hättest du gerne noch geschrieben, wenn du den Krieg überlebt hättest? Ich habe das Gefühl, darüber hätte ich viele Stunden mit ihm plaudern können.

 

Nenn bitte bis zu zehn Dinge, die Du gerne noch in Deinem Leben erreichen oder erleben möchtest?

Zehn? Das ist aber eine Menge! Eigentlich bin ich mit dem Erreichten schon ganz zufrieden. Ich möchte (natürlich) noch viele Romane schreiben und noch möglichst viele von meinen Ideen umsetzen, die in meinem Notizheft stehen (alle schnell aufs Papier geworfenen Fragmente mit eingerechnet, sind das mehr als 100). Ich würde gerne Bogenschießen oder Stockkampf lernen. Noch mal nach Irland in Urlaub fahren (das letzte Mal ist schon ewig her, das war ein Schüleraustausch, als ich 14 war).

Erleben möchte ich (auch wenn ich da sehr skeptisch bin), dass es auf globaler Ebene endlich wirkliche Fortschritte im Klimaschutz gibt, die auch dauerhaft sind, statt lediglich halbherzige Absichtserklärungen der einzelnen Staaten. Was toll wäre, wäre, wenn zu meinen Lebzeiten tatsächlich zweifelsfrei Leben auf einem anderen Planeten entdeckt werden sollte. Da würde ich die Sektkorken knallen lassen!

 

Wenn Du Deinem Ich vor elf Jahren einen Rat geben könntest, was würdest Du sagen? Stell Dir bitte einfach vor, wir treffen uns in einer verlassenen alten Kleinstadt, in der es noch ein Münztelefon gäbe – und zu unser aller Überraschung handelt es sich dabei um die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu telefonieren und mit sich selbst sprechen zu dürfen. Du hast nur zehn Sekunden Zeit, was rätst Du Deinem jüngeren Ich? Meine Antwort wäre: Vergiss, was die anderen sagen und lebe im Jetzt – immer. Wir sind Sterne und Erde zugleich und nichts ist für die Ewigkeit außer das Jetzt.

Ich würde meinem früheren Ich wohl sagen: Vertraue noch mehr auf das, was du selbst als richtig und wahr empfindest, ohne dich von den Meinungen anderer beeinflussen zu lassen. Geh deinen eigenen Weg, nicht den der anderen (das gilt gerade für die Zeit, als ich versucht habe, meine Romane an die vermeintlichen Interessen diverser Verlage anzupassen, und mit meinem Schreiben immer unglücklicher geworden bin, weil ich meine Geschichten immer weniger als meine eigenen erkannt habe).

 

Das ist wirklich ein sehr schöner Rat. Dann komme ich jetzt zu meiner letzten ‚großen‘ Frage: Was erwartet uns von Susanne Gavenis und Deinem Schreiber-Ich in Zukunft und kannst Du uns einen kleinen Ausblick in einen Folgeroman geben?

Nun, zunächst einmal werde ich demnächst meinen ersten Schreibratgeber herausbringen, der (hoffentlich) für den einen oder anderen Lernenden ein paar hilfreiche Tipps fürs Verbessern seiner handwerklichen und konzeptionellen Fähigkeiten beinhalten wird. Der nächste richtige Roman von mir wird meine erste Drachengeschichte sein, von der ich vor Kurzem eine Leseprobe des Prologs und des ersten Kapitels auf meine Webseite gestellt habe. Der Arbeitstitel des Romans lautet „Drachenseele“. Es geht darin um den jungen Drachenreiter Erem, der unversehens in einen erneut ausbrechenden Krieg zwischen den Drachen hineingerät und versuchen muss, sowohl die Drachen als auch die Menschen vor ihrer Vernichtung zu retten (was sich als durchaus schwierige Herausforderung erweist).

 

Short Question & Answer

Liebe Susanne, ich danke Dir für Deine ausführlichen und ehrlichen Antworten. Wenn es Dir nichts ausmacht, hätte ich im Anschluss noch ein kurzes, lustiges Q&A, welches Du immer spontan mit einem Wort beantworten kannst. (hier noch das Autorenbild einfügen J )

Süßes oder Salziges? Neutrales (mein Stoffwechsel ist ein bisschen schräg)

Tee oder Kaffee? Tee (von Kaffee werde ich müde)

Berge oder Meer? Meer

Nachteule oder Sonnenkind? Weder noch. Ich bin ein Kind der Dämmerung.

Apple oder Windows? Windows

Lieblingsfarbe? Blau (wie das Meer)

Lieblingsessen? Erdnüsse (aber ungesalzene)

Captain America oder Iron Man? (muss ich fragen, Du weißt warum :D ) Captain America ist, finde ich, ein rechter Langeweiler vor dem Herrn. Tony Stark hat schon ein paar interessantere Ecken und Kanten.

Sommerkind oder Skihase? Weder noch. Eher Frühlings- und Herbst-Eichhörnchen

Bart oder eher glatt rasiert? Ich bin immer glatt rasiert!

Lieblingsserie? Supernatural, Person of Interest

Singst Du unter der Dusche? Das weniger, dafür gerne mal im Auto.

Muntermacher zum Schreiben? Ein Tässchen Earl Grey.

 

Ich danke Dir, Liebes, es hat mir richtig Spaß gemacht. Ich wünsche Dir viel Erfolg mit Deinen Büchern, Deinem Leben, Deinen Träumen und freue mich schon auf mehr – ganz viel mehr :D.

 

Eure Jil Aimée

 

Hier habe ich jetzt noch ein kleines Schmankerl für Euch, die liebe Susanne hat es sich nicht nehmen lassen, Euch mit einer kleinen Leseprobe in die Welt der schwarzen Quelle mitzunehmen. Vielen Dank an dieser Stelle dafür, liebe Susanne.

 

Leseprobe aus  „Die schwarze Quelle“ – Ausschnitt aus dem 5. Kapitel

(In dieser Szene versucht meine zweite Hauptfigur Lerith, mit Hilfe ihrer magischen Kräfte einen Vogel zu heilen.)

 

[…] „Schließ die Augen“, sagte ihre Großmutter leise.

Lerith tat es.

„Gut, und jetzt stell dir vor, wie der Vogel seinen Flügel gebraucht. Stell dir vor, dass er wieder gesund ist und fliegen kann.“

Lerith versuchte es, aber es war nicht leicht. Sie hatte schon immer Probleme damit gehabt, jene inneren Bilder, die so wichtig für das Heilen waren, in ihrem Kopf heraufzubeschwören und zu halten.

„Ich ... ich schaffe es nicht!“

„Du bemühst dich zu sehr. Du bist Teil der Natur, und alles Wissen der Natur ist in dir. Zwinge es nicht herbei, lass es in dich fließen und verflechte es mit deiner Magie!“

Aber auch das war leichter gesagt als getan. Natürliches Wissen – es war da, und manchmal war es ihr auch gelungen, es zu berühren. Doch viel häufiger entschlüpfte es ihr, bevor sie auch nur die Gelegenheit gehabt hatte, die trostlose Ödnis ihres Geistes für die sublimen ätherischen Kräfte, die sie umgaben, empfänglich zu machen. Auch jetzt spürte sie nicht mehr als das vage Flackern einer Präsenz, die wie ein fernes Wetterleuchten für einen kurzen Moment über ihr am Firmament erschien und sofort wieder verschwunden war, nur das schwache Echo einer Melodie, die eigentlich mühelos und voller Freude in ihr erklingen sollte.

Tränen traten ihr in die Augen, als sie den Kopf hob und ihre Großmutter ansah. „Ich kann es nicht! Ich kann es immer noch nicht! Heile du den Kleinen. Ich will nicht, dass er weiter leidet.“

Doch Jenna schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht. Er ist dir anvertraut. Gib nicht so schnell auf. Nutze dein Mitgefühl, es ist der Schlüssel. Es kann dich führen und dir helfen, deine Zweifel zu überwinden. Folge deinem Mitgefühl.“

Lerith schloss noch einmal die Augen, doch die Enge in ihrer Kehle blieb. Ihr Mitgefühl musste sie nicht herbeizwingen, es war da und schmerzte sie, schmerzte tiefer und tiefer, je länger sie den verletzten Flügel des Vogels berührte. So sollte es nicht sein! Sein Knochen sollte nicht gebrochen sein, seine Sehnen und sein Fleisch nicht verdreht und gerissen. Der Kleine sollte fliegen können, sollte sich voller Freude und Anmut in die Luft erheben können. Sollte mit seinem Tanz den Himmel erfreuen.

„Lerith. Lerith!“

Benommen schüttelte Lerith den Kopf, öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. Der Vogel in ihrer Hand war fort.

„Wo ist er?“, rief sie erschrocken.

Jenna zeigte lächelnd nach oben. „Sieh hin.“

Und da war er. Der Kleine flog trällernd und pfeifend kleine Kurven und Schleifen, zwitscherte ihr noch einen Gruß zu und stob dann gen Himmel davon.

„Ich ... ich habe ihn ja doch geheilt“, sagte sie ergriffen.

Jenna nahm sie liebevoll in den Arm. „Natürlich hast du das. Du bist eine großartige Heilerin!“

Lerith senkte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich hätte es beinahe nicht geschafft.“

„Aber nur, weil du an dir gezweifelt hast. Zweifele nicht! Du bist eine Isani! Die Gabe zu heilen liegt dir im Blut, dir sogar stärker als vielen anderen, denn du empfindest tiefes, ehrliches Mitgefühl. Wenn du deine Zweifel überwindest, wirst du eine ebenso gute Heilerin sein, wie ich es bin.“

„Und wie gelingt mir das?“

„Darauf gibt es keine einfache Antwort. Vertraue auf dein Herz, schöpfe Mut aus deinen Erfolgen.“

„Und was ist mit meinen Misserfolgen?“

Davon hatte es immerhin auch eine Menge gegeben.

„Sie sind nicht von Bedeutung. Es waren lediglich Momente, in denen du deinen Ängsten erlaubt hast, sich zwischen dich und die Weisheit zu stellen, die ohnehin seit deiner Geburt ein Teil von dir ist. Doch eine Erlaubnis, die man einmal erteilt hat, kann man jederzeit wieder zurücknehmen.“ Ihre Großmutter lächelte. „So furchterregend dir deine Ängste und Zweifel auch erscheinen mögen, so sind sie trotz all des lärmenden Spektakels, das sie veranstalten, letztlich doch nur das, was sie immer schon waren: nur ein paar Gefühle, denen noch niemand anständige Manieren beigebracht hat. Reißt du ihnen ihre finstere Maskerade vom Gesicht, siehst du, was für aufgeblasene Schwächlinge sie in Wirklichkeit sind. Sie haben so viel Macht wie eine Wolke, die weder die Sonne daran hindern kann, jeden Morgen aufs Neue am Horizont zu erscheinen, noch ein einziges Samenkorn davon abhält, im Vertrauen auf ihr Licht und ihre Wärme aus der Erde emporzuwachsen.“ Ihr Lächeln vertiefte sich. „Deine Zweifel zu spüren heißt nicht, dass es tatsächlich Grund zum Zweifeln gibt. Vertraue auf die Kraft, die in dir ist. Sie wird immer dort sein, gleichgültig, ob gerade eine Wolke darüber hinwegzieht oder nicht.“

„Ich ... ich werde es versuchen“, erwiderte Lerith leise.

Doch ein Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Was nützte es ihr, eine gute Heilerin zu sein, wenn sie in einem Moment, in dem es wirklich darauf ankam, von ihren Zweifeln gelähmt wurde? Wenn jemand ernstlich verletzt war, brauchte er sofort ihre Hilfe und konnte nicht erst lange darauf warten, dass sie ihre Blockaden überwand. Vielleicht war ihr Vater ja doch nicht so dumm, wie sie gedacht hatte. War sie eine Gefahr für den Clan, die gebannt werden musste, ungeachtet all dessen, was ihre Großmutter in ihr zu sehen glaubte? Richtete sie in ihrem Bedürfnis, eine vollwertige Isani zu werden, am Ende größeren Schaden an als die Krankheiten, die sie zu heilen versuchte? Eins jedenfalls war völlig klar: So wie es im Augenblick um ihre Fähigkeiten bestellt war, war es wahrscheinlicher, dass ein Patient ihr unter den Händen wegstarb, als dass sie auch nur das Zwicken in seinem großen Zeh zum Verschwinden zu bringen vermochte. Den Vogel hatte sie zwar geheilt, aber er war trotz allem nur ein Vogel gewesen. Sie fror bei dem Gedanken, wie es sein würde, wenn zum ersten Mal das Blut eines Elfen ihre zitternden Hände benetzte.