Rezension: FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte - Barbara Imgrund
Rezension: FreakOut: Eine Wahnsinnsgeschichte - Barbara Imgrund
Kurzbeschreibung:
Eine Journalistin quartiert sich in Sankt Georg ein. Ihr Auftrag: eine Reportage über das Institut zu schreiben, das hoffnungslose psychiatrische Grenzfälle betreut. Vera wird einer Gruppe von Patienten zugewiesen, deren Alltag sie zwei Wochen lang teilen soll – und nach anfänglicher Skepsis und zunächst eher widerwillig freundet sie sich schließlich mit der magersüchtigen Ylvi und den anderen „Freaks“ an.
Doch je wohler sich Vera in Sankt Georg fühlt, desto verstörender werden die Begegnungen mit dem rätselhaften roten Drachen: Er erscheint ihr immer und immer wieder – so lange, bis sie zu ahnen beginnt, dass es noch einen Grund geben muss, warum sie hier ist.
Über die Autorin:
Barbara Imgrund ist im Allgäu aufgewachsen und hat in München Germanistik studiert. Neben dem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Schwesternhelferin und arbeitete auf der Krebs- und Aidsstation eines Münchner Krankenhauses. Nach einigen Jahren als Lektorin in verschiedenen Münchner Verlagen hat sie sich 1998 als Autorin/Texterin, Übersetzerin aus dem Englischen, Lektorin und Schreibcoach selbstständig gemacht. 2008 volontierte sie zum ersten Mal in Namibia in der Raubkatzenforschung; seither lassen sie Afrika, die Tiere und der Tierschutz nicht los, worüber sie regelmäßig in ihrem Blog die wüsten:monologe schreibt. Barbara Imgrund lebt in Heidelberg.
Web: www.barbara-imgrund.de
Blog: www.barbara-imgrund.de/wuestenmonologe
Facebook: Barbara Imgrund - Autorin & Übersetzerin
Rezension: „Und noch bevor sie den nächsten Atemzug getan hatte, begann sie schon, sich selbst zu vermissen“
Zunächst einmal lieben Dank an red.sign media und Barbara für das zur Verfügung stellen dieser Wahnsinnsgeschichte und das mich darauf Aufmerksammachen, auch mal in fremde Gewässer zu schwimmen. Über den Inhalt werde ich an dieser Stelle nicht viel verlieren, da die Kurzbeschreibung es schon sehr genau trifft und es sich bei dieser Geschichte einfach lohnt, selbst auf die große Reise zu gehen… Es wird ein Feuerwerk an Erkenntnis über das Eigene Ich, nicht nur das von Vera, Ylvi, Brix und allen anderen Freaks… So viel sei vorab gesagt.
Barbara hat es geschafft, mir ein mir eher fremdes Genre auf eine so charmante und absolut einnehmende Weise näher zu bringen, dass ich noch sehr lange über die Geschichte nachdenken werde. Sie bewegt. Sie verändert. Sie schafft Klarheit. Über das eigene Sein. Über vergessene Ängste. Über Wünsche. Und nicht zuletzt über die Zukunft. ‚FreakOut‘ ist eine Wahnsinnsgeschichte um die Angst sich selbst zu verlieren. Eine Geschichte, der sich alles abgewinnen lässt, dass das Leben ausmacht: Das eigene Selbst. Sie verdeutlicht aber auch auf klare und brutale, dennoch nicht minder berührende Weise, was der größte nur vorstellbare Verlust ist, den ein Mensch erleiden kann: Sich selbst zu verlieren. Dabei vergisst sie es nicht, einem die Hoffnung auf das Wiederfinden einer längst vergessenen Welt zu schenken: Deiner Welt in dieser so viel größeren, rasanteren Realität, die wir alle teilen. Denn ist es nicht so: Ein jeder hat seine Welt, seine eigene Geschichte – und manchmal ähneln sich diese – manchmal auch nicht. Aber so verschieden sie auch nach außen hin sein mögen, ihnen allen ist im Kern eines gleich, denn sie handeln vom (Kampf mit dem) eigenen Ich. Und dem Vergessen darüber.
„Denn in der Abgeschiedenheit gedeihen die schwarzen Gedanken, die Würmern gleich ein Loch in die Seele nagen und tausend wirre Irrgänge bohren. […]sodass es schwerer wird, sich selbst zu spüren.“
So geht es auch der Protagonisten dieser Geschichte. Ohne es zu wissen, hat sie sich selbst vergessen. Und der Weg zu dieser Erkenntnis und dem Prozess des Wiederfindens ist ein sehr langer, steiniger Weg. Aber wie soll dieser ihr so vorkommen, wenn sie sich doch nicht daran erinnert, warum sie wirklich in St. Georg gelandet ist. Gelandet, wie eine Reisende, die versucht endlich anzukommen und doch nicht genau weiß, wo eigentlich. Wie fühlt es sich an, eine Reise anzutreten, deren Ziel, Weg, und eigentlicher Grund vor einem verborgen liegen. Und egal, wie sehr man auch versucht ihn zu ergründen, mehr als an der Oberfläche zu schaben schafft man nicht, wenn einem die eigene zweite Realität im Weg steht. Eine Realität, die man sich zum Schutz errichtet hat, da die wirkliche Welt zu grausam ist, sie zu ertragen. Für den Moment. Eine Realität, deren Unendlichkeit tröstender erscheint, aber im Großen Ganzem betrachtet mit einem hohen Preis einhergeht. Dem Verlust der Gefühle und dessen, was eigentlich wahr ist. Aber was ist schon wahr? Hängt das nicht immer vom Blickwinkel und der subjektivem Sichtweise des Betrachters ab? Oder hat man sich einfach irgendwo unterwegs selbst verloren und findet sich nicht wieder und wie geht das überhaupt? Das sind Fragen mit denen die Protagonistin unterschwellig in dieser Geschichte konfrontiert wird. Unterschwellig deshalb, da ihr Ich vor der Wahrheit dicht macht und der übergezogene Mantel des Journalistendaseins so viel mehr Schutz bietet, als die Erkenntnis, selbst gefallen zu sein. Gefallen, wie die anderen Patienten, jeder auf seine eigene Weise. Und doch kann man nach dem Hinfallen auch wieder aufstehen, so wie sie es bei einigen der Mitpatienten im Laufe der Geschichte auch erfahren wird. Manchmal hilft etwas Simples und doch Allumfassendes wie das Malen, manchmal auch die Tatsache, seiner Familie neu zu begegnen. Manchmal muss man aber erst richtig tief fallen, um zu merken, dass man jetzt genug an Boden verloren hat und wieder aufstehen sollte – sonst holt einen der eigene Drachen ein und führt es einem erschaudernd vor Augen. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
„Der Lärm der Zeit war so laut, […]“
Ob sie es schaffen wird, zu verstehen, was ihr eigentlicher „Besuch“ in St. Georg bedeutet und ob es für sie ein „Auf Wiedersehen und Willkommen zurück in der Außenwelt“ geben wird, ist eine Reise, die den Leser tief ins eigene Ich führt und verborgene Winkel offenlegt, von deren Existenz man lange nicht mehr in Kenntnis war. Es ist eine Reise, die es sich anzutreten und sich selbst zu erfahren lohnt. Lest selbst. Ich garantiere Euch Klarheit, knallharte Erkenntnis und ein Zurechtrücken entzweiter Teile eures Selbst. Eines ist aber sicher: Man kann sich im Leben in vielerlei Hinsicht selbst verlieren und das hat nicht unbedingt immer etwas mit ‚Vergessen‘ zu tun. Jeder von uns kennt das – in der einen Form oder der anderen. Und manchmal kann das Vergessen auch ein Geschenk sein. Ein klarer, von Altlasten befreiter Neustart – wenn dies der einzig richtige Weg zu sein scheint und nicht nur der am naheliegenste. Eines ist uns allen eigen: Wenn man nicht mehr zurückblicken kann, dann kann man aber immerhin eines ganz sicher, nachvorneschauen! Denn weiter geht es immer, irgendwie.
„[…], ein ganzes Leben lang – sie würde doch niemals ans Ende des Weiß gelangen.“
Barbara schreibt auf eine ganz individuelle Weise, die einen von Konventionen befreit und immer genau den Charakter des jeweils Sprechenden wiedergibt. Sie lässt die klischeebedienten Nervenkitzel-Elemente und typischen Geisteskrankenbilder, die man eigentlich bei Psychoromanen erwarten würde, weg und schafft einfach eine Geschichte mit mehreren Realitäten und Wahrheiten, die nebeneinander bestehen. Allein diese Wahrheiten, die manchmal hinter Nebeldickichten verborgen liegen, die es aber zu entdecken gilt, um die Menschen zu verstehen, schaffen enorme Spannung. Man fühlt sich wie ein stiller Beobachter, der ganz genau, wie die Protagonistin, versucht, die Geschichte, St. Georg und ihre Bewohner zu ergründen und zu einem großen Ganzem zusammenzufügen. Dabei entdeckt man sich selbst. Das ist das überraschende Etwas am Ende.
„Und so stolperte ich durch mein Leben, […], entfernte mich weiter und weiter von dem Ziel, das mir vielleicht irgendwo bestimmt war.“
Um anzukommen an Eurem Ziel, lest diese Geschichte. Sie bringt Euch dem Ganzen ein ganzes Stück näher.
-- Jil Aimée